Wenn Liebe nicht genug ist: indische Dramen und arrangierte Ehen

Den Mann an meiner Seite, also Captain Christoph, kenne ich seit 33 Jahren und seit 32 Jahren lieben wir uns. Wenn man bedenkt, dass ich 49 Jahre alt bin, sind wir als Paar eine Rarität, ein Spektakulum in der Welt der Getrennten und Geschiedenen, der Patchwork-Paare und der wechselnden Lebensabschnittspartner. Angesichts der Tatsache, dass in Europa die Hälfte aller Ehen geschieden wird, drängt sich die Frage auf, ob die Liebesheirat wirklich der einzig wahre Weg zum ewigen zweisamen Glück – bis dass der Tod uns scheidet – ist. (Also mir persönlich drängt sich dieser Gedanke nicht auf, und ich hoffe, auch meinem Ehegatten nicht.)

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Zu Besuch bei Helans Familie: ich, Helan, ihre Mutter ihre Nichte und zwei von ihren drei Schwestern (v.re.)

Daher blicke ich nach Indien, wo die überwiegende Mehrheit aller Ehen nach wie vor arrangiert ist. Und ist sie es nicht, bedarf es auf jeden Fall der Zustimmung der Eltern beider heiratswilliger Kandidaten. Da müssen die Mütter der Söhne noch heute bei der Familie der Auserwählten ihre Aufwartung machen (vorausgesetzt, sie sind mit der Wahl ihres Sohnes einverstanden, sonst ist dessen Ansinnen chancenlos) und Überzeugungsarbeit leisten. Oft dauern die Verhandlungen monatelang. Im Normalfall zahlen die Eltern der Braut Mitgift (dowry,) aber es gibt auch Fälle von Eheverhandlungen, die mit Zahlungen der Bräutigam-Familie enden, nämlich dann, wenn sich die Brauteltern gegen die Verbindung sträuben. Dann hilft nur mehr ein Haufen Rupien als überzeugendes Argument. Das muss wahre Liebe sein.

Online-Check: Kaste, Hautfarbe und Religion

Wir „Westler“ sind schnell mit dem Verteufeln der arrangierten Ehe, reagieren mit Entsetzen über diesen Anachronismus, bedauern die Zwangsverheirateten. Aber Halt: Genau das ist es nicht! Eine klassische arranged marriage ist keine Zwangsheirat. Eltern und Großeltern suchen die Zukünftige nach bestem Wissen und Gewissen aus. Immerhin kennen sie ihr Kind besser als irgendjemand anderer und warum sollen sie nicht wissen, wer zum ihm passt? Hatte man sich früher im eigenen sozialen Umfeld umgeschaut, um die Passende zu finden (am Land läuft es heute noch so) findet die Partnersuche in den modernen indischen Städten über Online-Partnerbörsen statt. Schließlich sollen die zwei Wunschkandidaten ja zusammenpassen: sozialer Status, Aussehen, Ausbildung und Kaste spielen eine Rolle und werden vorab gecheckt. Zu guter Letzt, wenn man sich ein paarmal getroffen hat – mehr als Reden ist nicht drin – entscheidet doch die gegenseitige Sympathie. Im besten Fall.

Der Wert einer Frau

In einem Land, das Frauen gegenüber Männern einen niedrigen Stellenwert einräumt, ist naturgemäß der Grat zwischen arrangierter und Zwangsehe schmal. Besonders in ärmeren Familien. Denn Mädchen sind teuer, auch wenn die dowry offiziell längst verboten ist. Ebenso wie Abtreibungen, denn mit dem Aufkommen des Ultraschall stieg die Zahl der Abtreibungen von weiblichen Föten stark an. Mädchen gelten als Bürde der Familie, ein Sprichwort heißt: „Eine Tochter großzuziehen, ist wie den Garten des Nachbarn zu gießen.“ Und in ihre Position als wertloseres Geschlecht haben sich Mädchen und Ehefrauen von Anfang an zu fügen. Erst ihren Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten, dann ihren Ehemännern. Dass Gewalt in der Ehe keine Seltenheit ist, wundert da nicht.

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Jaipur 1993

Bei unserem ersten Aufenthalt in Indien – vor 25 Jahren – habe ich ich für meine Forschungsarbeit eine Frau interviewt, deren Tochter kurz vor der Hochzeit stand. Wir waren bei der Familie zum Abendesssen eingeladen und das Mädchen, ungefähr so alt wie ich, zeigte mir ganz schüchtern das Passfoto ihres Bräutigams. Es fragte mich nach meiner Meinung über ihn, die junge Frau selbst hatte ihren Zukünftigen erst einmal kurz getroffen und würde ihn vor der Hochzeit nicht mehr sehen. Dafür zeigte mir die Mutter heimlich und stolz die dowry: wunderschön bestickte Saris und Shalwar Kamiz, Schmuck und Geschirr.

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In Don Boscos Büro

In Don Boscos Büro in Tamil Nadu im Februar 2018, als wir für das Hilfsprojekt Hand in Hand im Einsatz waren, sahen wir auch immer wieder Eheleute, die mit ihren Problemen zu ihm kamen, um von ihrem Seelsorger Rat einzuholen. Wir lauschten in dem kleinen Kammerl, eingerichtet mit einem Schreibtisch, einem Stuhl und zwei Plastiksesseln, auf denen wir Platz nehmen durften, den Ehedramen. Egal ob arrangiert oder Liebe, es sind immer die gleichen Geschichten. Weltweit.

An einem Abend waren wir zu viert mit einem Roller und einem Motorrad unterwegs. Ich durfte auf dem Sozius von Helans Roller Platz nehmen, Christoph lenkte das Bike eines jungen Lehrers aus Don Boscos Schule. Es ging ins Kino in der nächstgelegenen Stadt. Ein tamilischer Film mit viel Herzschmerz, Drama, Musik und Tanz – Bollywood auf Tamil, ein Erlebnis der besonderen Art. In der Pause – der Film dauerte vier Stunden – verzupfte sich Christoph zum Zigarrettenrauchen und der junge Lehrer kam mit. Er schnorrte von Christoph eine Zigarrette und verriet ihm, dass seine Frau im verbieten würde, zu rauchen, daher nutze er die Gelegenheit hier, wo ihn keiner kenne.

Der Irrtum mit der Walküre

Am nächsten Tag erschien ebenjener junge Mann in Don Boscos Büro. Mit Tränen in den Augen legte er ein Blatt Papier auf seinen Schreibtisch. Sein Kündigungsschreiben, wie uns Don Bosco übersetzte. Seine Geschichte dazu lautete folgendermaßen: Er war mit seiner Frau – ebenfalls Lehrerin an dieser Schule – in Streit geraten und das rabiate Weib habe ihn daraufhin geschlagen, nun wolle er sich von ihr trennen und können deshalb nicht mehr an der gleichen Schule wie sie arbeiten. Also wurde das prügelnde Eheweib herbeigerufen. Christoph und ich stellten uns auf eine Walküre ein und bedauerten insgeheim den jungen, schmächtigen, gut aussehenden Mann. Die Meghäre erwies sich als wunderhübsche, ungefähr 1,50 Meter kleine und geschätzte 40 Kilo leichte junge Frau. Auch sie hatte Tränen in den Augen, während sie schilderte, wie ihr Ehemann wie so oft einen über den Durst getrunken, dann ins Ehebett uriniert und diese Missetat zu allem Überfluss auch noch abgestritten hatte. Ich weiß nicht, ob die Ehe hält, aber ich wünsche mir ein Happy End für die beiden. Denn der junge Lehrer wirkte nicht nur sympathisch, er hatte auch bei der großen Schulfeier an unserem letzten Tag in Pagandai Kootu Road von seinen Schülern mit Abstand den meisten Applaus bekommen. Offenbar der Lieblingslehrer an Don Boscos Schule. Übrigens hatten die beiden aus Liebe geheiratet, wie uns Helan verriet.

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1 Kommentar

  1. Zu diesem Thema habe ich auf meinem Blog auch schon einen Artikel verfasst. In den Metropolen Indiens steigen die Scheidungsraten übrigens stark an. Eine Freundin, die Anwältin ist, meinte oft würden Ehen wegen Kleinigkeiten aufgegeben. Auch Indien verändert sich und je unabhängiger und gebildeter eine Frau ist, desto weniger ist die Bereitschaft da sich jahrelang mit einer unglücklichen Ehe zufrieden zu geben. Ob arrangiert oder Liebesheirat- die Garantie auf eine glückliche Ehe gibt es leider nicht. LG aus Chennai Irene

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