15 Tage und 15 Nächte in Jaipur: Indiens Weltmeister

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Das Hotel stand direkt am Kreisverkehr gegenüber dem alte Stadttor. Das fünf Stockwerke hohe Gebäude maß im Grundriss geschätzte fünf Mal fünf Meter, soll heißen, es beherbergte ein Treppenhaus und in jedem Stock ein vier mal vier Meter großes Zimmer. Dieses Hotel in Jaipur war eines von vielen, in denen wir in den Nächten kaum ein Auge zutaten, nach drei Tagen und drei Nächten gaben wir auf und flüchteten in die nächste Herberge – in der wir wieder nicht schlafen konnten.

Hupkonzert-Weltmeister

Indiens Städte sind laut. Schon damals vor 25 Jahren, als Christoph und ich zum ersten Mal durch den Subkontinent reisten. So viele Nächte, in denen wir versuchten, die Kakophonie an Alltagsgeräuschen auszublenden und doch daran scheiterten. Die Geräuschkulisse, die unablässig in unser Zimmer jenes Hotels in Jaipur klang, war vielfältiger und unerfreulicher Natur. Da war zum Einen der Kreisverkehr. In Indien ist es üblich, in jede Kreuzung, in jeden Kreisverkehr, ja sogar in jede Kurve mit dem Finger auf der Hupe einzufahren. Während bei uns in Österreich Hupen grundsätzlich bedeutet: „Fåhr weida, du Oarschloch!“, heißt es Indien ganz einfach und banal: „Hier komme ich.“ Die einzigen, die während des Tag und Nacht nicht abreißenden Verkehrsstroms über den Kreisverkehr Richtung Stadtzentrum auf das Hupen verzichteten, waren die Kamelkarren-Fahrer…

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Als wäre das Hupkonzert nicht genug, befand sich obendrein eine Moschee in Sichtweite unseres Zimmerfensters, deren Minarett in unserer Augenhöhe, und der Ruf des Muezzin erschallte unbarmherzig. Warum der – übrigens musikalisch völlig talentbefreite – Gebetsrufer bereits um vier Uhr Früh zu stockfinsterer Nacht zum ersten Mal unser Zimmer beschallen musste, war uns Nacht für Nacht völlig unerklärlich. Als dann die Morgendämmerung anbrach, begannen die Marktstandler, ihre Ware aufzuschichten, denn, ja richtig: Zwischen Kreisverkehr und Stadttor lag noch dazu Jaipurs größter Gemüse-, Obst- und Gewürzmarkt. Unglücklicherweise nahmen weder Verkäufer noch Einkäufer Rücksicht auf das Schlafbedürfnis von zwei österreichischen Backpackern mit massivem Nachtruhedefizit und tratschten, feilschten und diskutierten in den frühen Morgenstunden in landesüblicher Lautstärke.

Zimmer in Ruhelage…

Wir übersiedelten wie gesagt nach drei Tagen. Die Lage des Hotels schien günstig, eine Nebenstraße, das Zimmer Richtung begrüntem Innenhof. Leider fiel mehrmals täglich und auch in der Nacht der Strom aus. Kein Problem für Kühlschrank & Co., denn das „Luxushotel“ verfügte über einen Stromgenerator, der in diesen Notfällen – also jede Nacht – ansprang. In der ersten Nacht machte ich vor Schreck einen Satz aus dem Bett, weil ich überzeugt war, das Ding läge direkt neben uns, so sehr vibrierte das Zimmer durch den dröhnenden Lärm.

Die kurzen Nächte in Jaipur hatten einen Vorteil: Wir erlebten lange Tage und das war gut so, denn in Indien weißt du nie, wen du treffen wirst, wer dich einladen wird und wo du am Abend landest. Während wir durch die überfüllten Straßen flanierten und aus dem Schauen nicht mehr rauskamen, bemerkten wir einen Verfolger hinter uns. Ein junger Mann, der zwar mit Respektabstand, aber unablässig hinter uns herlief. Christoph sprach ihn schließlich an, denn solch großes Interesse an uns war doch ein wenig unheimlich.

Der Edelsteinschleifer

Der junge Mann hieß Issam, seine Familie besaß mehrere Edelsteinschleifereien in Jaipur und er selbst war ganz einfach nur neugierig: Er wollte Europäer persönlich kennenlernen. Mehrere Tage waren wir mit ihm in seiner Stadt unterwegs. Mit seinem altersschwachen, klapprigen Moped fuhren wir zu Dritt zum Nargahar Fort am Gipfel des Berges, um den unglaublichen Sonnenuntergang der Wüste zu beobachten, der die aus Sandstein gebaute Pink City in rosarotes Licht tauchte. Wir waren  bei seiner Familie zum Essen eingeladen, saßen zwischen edlen geknüpften Teppichen und Pölstern am Boden, vor uns einen unüberschaubare Anzahl an Schüsseln und Töpfen und wurden genötigt, alles, aber auch wirklich alles aufzuessen. Issam zeigte uns auch die Betriebe – wo ganze Familien – auch Halbwüchsige, Kinder die in Europa längst noch die Schule besuchen dürfen – die Edelsteine schliffen, für die Jaipur berühmt ist. Smaragde, Saphiere, Rubine… Mit Maschinen, die aus der Zeit gefallen schienen, Präzisionsarbeit per Hand. Faszinierend und erschütternd zugleich.

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Zum Abschied fragte Issam, ob er Christophs Uhr bekommen könnte, eine alte, ziemlich zerkratzte Swatch. Die Marke gab es damals nicht in Indien zu kaufen. Dafür schenkte er mir ein paar Ohrringe und einen Ring, dessen Steine und Design ich selbst auswählen durfte. Ich liebe den Schmuck heute noch, denn uns war bewusst, dass diese Form der Gastfreundschaft keine Selbstverständlichkeit war.

Weltmeister im Übers-Ohr-Hauen

Zwar war das systematische Touristen-übers-Ohr-Hauen 1993 in den Reise-Hotspots noch nicht zu seiner heutigen Vollkommenheit entwickelt worden, doch war grundsätzlich Vorsicht angebracht. Tatsächlich schaffen es nur wenige Europäer, sich während ihres Indienaufenthalts allen Tricks der kleinen und großen Gauner zu entziehen. Taxifahrer, die statt zum gebuchten Hotel zu jenem ihres „Onkels“ abzweigen – Best-Price-Guarantee inklusive, selbsternannte Guides, die dich in jene Geschäfte locken, mit deren Besitzern sie Provision vereinbart haben, Essenseinladungen nach Hause, die sich als Geschäftsanbahnung für Ramsch-Souveniers entpuppen – das alles gehört zum leidvollen Touristenalltag. Und dennoch lieben wir Indien. Denn hier ist alles möglich.

Tausendmal wirst du angesprochen, weil dir jemand Klumpert verscherbeln, dich in sein Geschäft lotsen will oder dich anbettelt. Und dann redet dich einer an, der dich ganz simpel nur kennenlernen will. Lädt dich zum Essen ein oder begleitet dich ein Stück des Wegs, um sich mit dir über dein Land, deine Familie und den Grund deines Besuchs in seinem Land zu unterhalten. „I hope you enjoy your journey through India?“ Of course, we do!

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