Nach Brasilien: einer für alle, alle für einen

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Zuerst die schlechte Nachricht: Willst du von Venezuela nach Brasilien einreisen, braucht du die Gelbfieber-Impfung. Jetzt die gute: Wenn du den richtigen Reisebeleiter mithast, geht es auch ohne. Und der muss weder spanisch noch portugiesisch sprechen können, er braucht nur…

Aber von Anfang an. Als unsere Kinder drei und fünf Jahre alt waren, beschlossen wir, bevor der Große in die Schule kommen würde, nach Venezuela zu reisen und meinen Papa zu besuchen. Der lebte damals in Puerto Ordaz, wo er eine Tischlerei führte. Puerto Ordaz ist eine Industriestadt am Orinoco, im Nordosten des Staates, ziemlich groß, ziemlich chaotisch, sehr südamerikanisch. Damals – ist ja schon eine Weile her, als unsere Kids so klein waren – waren die politischen Verhältnisse noch geordnet, Staatschef Hugo Chávez war erst vor wenigen Monaten gewählt worden, noch war vom dramatischen Niedergang der Wirtschaft und von den gesellschaftlichen Problemen, die in seiner kommunistisch-diktatorische Politik wurzelten und von seinem Nachfolger Nicolás Maduro auf die Spitze getrieben wurden und werden, nicht viel zu spüren.

Tengo tres años

Ja, es war nicht nur unproblematisch, mit den zwei kleinen Buben nach Venezuela zu reisen, für die Kinder war der Urlaub nahezu paradiesisch. Wir wohnten in einer großen Wohnung mit begrünter Dachterrasse plus extra für die Enkerl angeschafftem Planschbecken, wir machten Ausflüge in den Llovizna Park mit seinen spektakulären Wasserfällen, besuchten Freunde auf einer Farm, die Kinder bekamen von einem chilenischen Schwimmlehrer Unterricht – und lernten nebenbei ihre ersten Wörter auf Spanisch. Soy Matthias, tengo tres años.

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Weil sich die Kinder bei Oma und Opa so wohlfühlten und mit Begeisterung Omas Empanadas und den Palmblätter-Spinat aßen (auch Omas müssen tricksen, wenn die Enkerl partout keinen banalen Spinat essen wollen), riskierten wir Rabeneltern es, sie tatsächlich für eine paar Tage sich selbst – ich meine in der Obhut ihrer Großeltern – zu überlassen und eine Tour durch die Gran Sabana bis zur venezolanisch-brasilianischen Grenze zu machen.

Ein Freund meines Papas führt eine Art – Hotel wäre jetzt übertrieben, Absteige ist’s aber auch nicht. Irgendetwas dazuwischen, einfach aber sehr gastfreundlich. Venezlonisch eben. Der Freund ist übrigens gebürtiger Deutscher und von Beruf Überlebenskünstler. Mit seinem alten klapprigen Toyota und vier weiteren Touristen aus Deutschland und den Niederlanden gehen wir auf Tour. Mit dabei ist außerdem ein Burgenländer, der seit Jahren ebenfalls im Hotel wohnt, zum Inventar gehört und ein noch größerer Überlebenskünstler und Abenteurer ist. Die beiden sind unsere Guides, auch wenn sie mit zerrissenen Short, fleckigen T-Shirts und Badeschlapfen nicht so ganz vertrauenserweckend aussschauen. Mit Provint decken wir uns unterwegs ein. Eine Ladung Eis, um Bier und Rum – das wir literweise einladen – zu kühlen, hat oberste Priorität. Die Tour scheint unterhaltsam zu werden.

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Spannend wird sie auf jeden Fall. Wir fahren Richtung Süden zu den sagenumwobenen Goldgräberstädten El Callao, Tumeremo und El Dorado. Wir überqueren jene Brücke über den Fluss Cuyunì, die unübersehbar Gustave Eiffel konstruiert hat und übernachten in einer Siedlung der Pemones, ein indigenes Volk Südamerikas. Ich muss gleich dazusagen, ich habe keine wirkliche Angst vor Krabbeltieren, aber… Ab einer gewissen Menge pro Quadratmeter wird’s für mich grauslich. In der Rundhütte, die uns Schlafplatz zugewiesen wurde, wimmelt es vor Kakerlaken. Als wir das Licht aufdrehen, rennen die Viecher in alle Richtungen davon. Auf die Gefahr hin, dass wir jetzt von eingefleischten veganen Pazifisten als Tiermörder abqualifiziert werden, wir haben alle erschlagen, die wir erwischt haben. Und es kommen immer noch neue nach. Bis wir die Matratze unseres Bettes, das als einzige Möbelsstück in der Mitte des Raums steht, geschützt mit einem Moskitonetz, schauen: der Traum jedes Entomologen. Ein Kakerlakennest.

Raus aus dem Bett!

Nach getaner Insektenvernichtung wagen wir uns ins Bett, das Moskitonetz klemmen wir unter die Matratze, damit kein einzige Tier die Chance hat, zu uns zu krabbeln. Gute Nacht! Im Halbdunkeln öffne ich noch mal die Augen, der Mond leuchtet durch die Tür. Da! Auf dem weißen Leintuch ein schwarzer Fleck. „Eine Kakerlake!“ In der Sekunde springen Christoph und ich links und rechts aus dem Bett, panisch den Lichtschalter suchend. Wir schauen zun Ort des Grauens. Der Fleck bewegt sich nicht. Er ist ein Loch im Leintuch, durch das die dunkle Matratze zu sehen ist. Trotzdem, ich hab schon entspanntere Nächte mit schöneren Träumen als diese erlebt.

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Am nächsten Tag kommen wir zur Hochebene Gran Sabana, in der Ferne sind die berühmten Tafelberge, die Tepuis, zu sehen. Von ihren Flanken donnern die höchsten Wasserfälle der Welt zu Tal, zu einem von ihnen, dem Chinak-meru, wandern wir, um die Wassermassen und den Sprühnebel, den sie erzeugen, aus nächster Nähe zu sehen. Wir besuchen auch einen Katarakt, dessen Boden aus einem riesigen Halbedelstein – aus Jaspis – besteht. Schließlich erreichen wir die Grenzstadt Santa Elena und natürlich, wenn wir schon so nah sind, möchten wir nach Brasilien. Die Männer wollen vor allem Fleisch. Offenbar muss jeder, der ein paar Stunden in Brasilien verbringt, in einer Churrascaria essen. Aber wir haben auch gehört, dass heute auf der brasilianischen Seite der Grenze Carneval gefeiert wird – auch wenn im Rest der christlichen Welt eigentlich schon seit ein paar Tagen die Fastenzeit begonnen hat, was die Brasilianer anscheinend – gottseidank – wenig kümmert. Warum auch immer, wir wollen alle über die Grenze und werden vorher gewarnt. „Da braucht ihr einen Impfpass, mit Gelbfieber-Impfstempel.“ Haben wir alle nicht, außer einem jungen Mann aus Deutschland. Der hat alle Impfungen, die seit Edward Jenner, dem Erfinder der Pockenimpfung, entwickelt worden sind – von Pest über Cholera bis Dengue. Der Mann hat offensichtlich extreme Furcht vor Krankenheiten aller Art, dagegen keine Angst vor Ärzten mit Spritzen. Ein Segen für alle Toyota-Insassen. Denn an der Grenze werden wir tatsächlich mit gestrengem Blick nach den verpflichtenden Stempeln gefragt und unser Freund wedelt daraufhin mit seinem Impfpass, in dem – nicht gezählte aber geschätzte – 150 Stempel prangen. Genug für uns alle, die brasilianischen Grenzbeamten sind sehr zufrieden mit unserem Gesundheitsstatus und winken uns durch.

Wenn man es in einem Land versteht, Carneval zu feiern, dann wohl in Brasilien. Und wir sind mittendrin. Eine unvergessliche Nacht.

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