Entweder du liebst es oder du hasst es. Niemandem, der Indien bereist hat, ist das Land egal. Ich glaube, es liegt an den extremen Gegensätzen, denen du an jeder Ecke begegnest. Hier leben die reichsten Menschen der Welt und es gibt keine Straße, egal ob in Großstädten oder am Land, wo du nicht mit bitterer Armut konfrontiert wirst. Verkrüppelte Kinder, Frauen in Lumpen, ihr Baby am Arm, beinlose Bettler, die sich auf Rollbrettern weiterbewegen. Mittelstand existiert eigentlich kaum, denn jene mit Durchschnittseinkommen können zwar ihre Familien ernähren und ihren Kindern Schulbildung ermöglichen, aber Wohnen auf europäischem Standard, teure Autos oder gar Urlaube sind nur den Superreichen vorbehalten.
Einsam auf der Süd-Ost-Tangente
Indien ist extrem. Extrem farbenfroh, laut und vielfältig, aber auch extrem zugemüllt und beengend. Ein Gewusel an Menschen, auch in den kleinsten Dörfer sind die Gassen den ganzen Tag über voll Leben. Kehrt man nach längerer Zeit nach Österreich zurück, ist man irritiert von der Sterilität und Einsamkeit der Straßen von Wien – sogar die Südost-Tangente wirkt wie ein Quell der Ruhe.
Wer Großstädte wie New Delhi oder Bombay bereist, hat in kürzester Zeit das Gefühl, die Hälfte aller Einwohner Indiens – also zirka eine halbe Milliarde Menschen – gesehen zu haben, so unvorstellbar ist das Gedränge auf den Straßen der indischen Metropolen.
Das Bruttoinlandsprodukt Indiens beträgt 2,8 Billionen US-Dollar, das sind pro Kopf nicht mal 2000 (jenes von Österreich beträgt 400 Milliarden, pro Kopf 50.000) und weder das Durchschnittseinkommen noch die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten sind mit jenen Europas zu vergleichen. Eigentlich ist Indien in keiner Hinsicht mit Europa zu vergleichen, na ja, die Smartphone-Nutzungs-Intensität vielleicht ausgenommen. Aber sonst?
Gebrauchte Zähne sind kostengünstig
Wenn wir schon beim Einkommen sind: Auch die Berufsbilder sind etwas vielfälter als in good old Europe. Oder hast du in Wien, Paris, London or wherever schon Gebraucht-Zahnprotesenverkäufer gesehen? Der, den wir kennengelernt haben, verkauft sie in Jodhpur mitten am Markt, auf einer Decke in Reih und Glied präsentiert, kann man seine schönsten Modelle – alle gebraucht, aber dafür supergünstig – gleich vor Ort auf ihre Passform testen.
Speziell ist auch der Ohrenputzer. Diese Profession hat in New Delhi Tradition, hier sind die besten Ohrenputzer der Welt seit Jahrzehnten zu Hause. Es mag etwas ungewöhnlich klingen und so mancher Tourist wird seinen Ohren nicht trauen, wenn mitten im Zentrum, am Connaught Place aus heiterem Himmel die Frage nach einem sachkundigen „Earcleaning“, ertönt. Tatsächlich, der Mann ist ein Profi, er hat den Beruf von seinem Vater und der wiederum von seinem Großvater gelernt. Um zu beweisen, dass seine Selbstvermarktung mehr als nur leeres Geschwafel ist, zückt der Earcleaner auch gleich ein Büchlein. „Where are you from? Ah, Austria! You speak German.“ Und schon lesen wir in dem uns vor die Nase gehaltenen Notizheft jene wirklich überzeugende Referenz eines begeisterten Deutschen: „Dieser Mann hat mir den besten Ohrenputz ever verpasst. Kann man sich mal gönnen!“ Auch Österreicher hatten offensichtlich schon die Dienstleistung des Fachmannes in Anspruch genommen, wie es der Eintrag „Der beste Ohrwaschlputzer von Scheibbs bis Nebraska“ nicht überzeugender hätte bestätigen können.
Nur der Vollständigkeit halber: Wir haben uns keinen Ohrwaschlputz auf offener Straße gegönnt, aber wir haben auf unseren beiden Reisen durch Indien noch etliche Berufe kennengelernt, die in unserer Heimat de facto nicht existieren. Zum Beispiel die Dabbawallas von Bombay, die Essenzusteller, die täglich Hunderttausende Menüs im speziellen Metallreindl (früher hätte man Menage dazu gesagt), dem Dabba, von treusorgenden Ehefrauen mehr oder weniger liebevoll – aber auf jeden Fall frisch – gekocht abholen, und in Büros zu den hard working Ehemännern bringen. (Von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist Indien noch meilenweit entfernt, das ist wieder eine andere Geschichte.) Die Dabbawalla-Logistik funktioniert über mehrere Übergabestellen und mittels ausgeklügeltem Codesystem.
Menschenschieber
Sehr speziell aber nicht unbedingt für Europas urbane Mobiltiät vorbildhaft: der Beruf der Zug-Schieber. Da U-Bahnen und Züge in den Städten hoffungslos überfüllt sind, haben diese Männer die Aufgabe, Passagiere in die Waggons zu stopfen. Wer nicht freiwillig einsteigt, wird eben eingestiegen. Wie gesagt, über eine Milliarde Menschen muss halt irgendwie irgendwo untergebracht werden. Platzproblem? Nicht in Indien. Wer das eremitenhafte Einsiedlerleben vorzieht, findet hier sowieso nicht sein Glück.