Ich glaub ich bin im falschen Zug: Indiens öffentlicher Verkehr – Teil 2

Abenteuer Zugfahren. Wenn Captain Christoph nicht gerade Captain ist, fährt er täglich mit dem Zug nach Wien in die Arbeit. Und ungefähr jeden zweiten Tag hat die Bahn Verspätung oder der Zug fällt ganz aus, dann steht Christoph mit etlichen Leidensgenossen zu nachtschlafener Zeit um fünf Uhr früh am Bahnhof und wartet – manchmal vergeblich. Pendlerschicksal an der Nordbahn.

Nordbahn Cajun von Jimmy Schlager

Zugfahren in Indien hebt das Abenteuer in neue Dimensionen. Es beginnt mit dem Kauf des Tickets. Hast du schon einmal an einem indischen Schalter Tickets gekauft? Fünf Warteschlangen und du stehst garantiert bei der falschen – es ist die Schlange für Züge nach Kolkata, du willst aber nach Mumbai. Es ist die Schlange für den heutigen Zug, doch du fährst erst morgen. Es ist die Schlange für Frauen, für Tokens, was auch immer. Wenn du endlich den Beamten am richtigen Schalter erreicht hat, ist Feierabend oder der Computer funktioniert gerade nicht oder es ist kein Platz mehr frei. Wir waren dreimal am Bahnhof, bis wir ein Ticket besaßen.

Platzreservierung mit manpower

Am Tag unserer ersten Zugreise machten wir den Fehler, auf die Platzreservierung zu verzichten. Wir hatten höflich abgelehnt, als uns ein Mann am Bahnsteig fragte, ob er einen Platz für uns besetzen solle. Also bitte, wir können doch wohl selbst einsteigen und… Der Zug fuhr ein und aus den Türen quollen, noch bevor er zum Stillstand kam, Menschen mit Koffern, Unmengen an Plastiksackerln, Kindern, Käfigen mit Hühnern, Hausrat – einfach mit allem, was im Zug transportabel ist. Während die einen hinausdrängten, versuchten diejenigen, die gemeinsam mit uns am Bahnsteig gewartet hatten, in die Abteile zu klettern. Das taten sie ohne Rücksicht auf die Aussteigenden und mit unglaublicher Wendigkeit. Als wir schießlich unter Mühen das Zuginnere als letzte Passagiere erreicht hatten, gab es keinen einzigen freien Platz mehr. Nicht auf den Bänken und auch nicht am Boden, wo es sich Famlien schon gemütlich gemacht hatten und ihre Chapatis aus den Dabbas holten. Nach einer Stunde verzweifelten Stehens und wachsender Verzweiflung angesichts des Gedankens, weitere zehn Stunden eingekeilt zwischen Kindern und Hühnern ausharren zu müssen, bekam ein junger Mann Mitleid mit uns schwitzenden Bleichgesichtern. Er bot uns seinen Platz auf einer Liege im oberen Drittel des Abteils an (es gab Lieben in Dreierreihen übereinander), den wir dankend annahmen. Da saßen wir nebeneinander, zusammengekrümmt, denn aufrecht war unmöglich – und verfluchten unsere Unwissenheit und Naivität.

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Matheran Hill Railway 1993

Wenig zu lachen hatten wir auch in jener Nacht, als wir von Jalgaon in Maharastra nach Mumbai fuhren. Wir hatten ein Ticket und – klüger geworden – Platzreservierungen. Kurz vor Mitternacht standen wir am Bahnhof, der Zug kam nicht, wir warteten über eine Stunde, bis der Zug nach Mumbai einfuhr. Aber hallo, eine Stunde ist ja für indische Verhältnisse harmlos. Wir suchten die Nummer unseres Waggons und dann unseren Platz. Der war besetzt. Unerfreulicherweise zeigten die Passagiere weder Interesse noch Verständnis dafür, dass wir mit unseren Tickets vor ihren Augen herumfuchtelten und ihnen erklärten, sie säßen auf unseren Plätzen. Zum Glück klärte uns ein Schaffner nach einiger Zeit des – einseitigen – Diskutierens auf: Wir waren im falschen Waggon gelandet und sollten doch einfach beim nächsten Halt aus- und in den hinteren Waggon einsteigen. Die zwei Stunden bis zum nächsten Halt verbrachten wir am Boden vor der Zugtoilette sitzend – dem einzigen freien Platz.

Klo-Platz

Leider wiederholte sich die Szenerie im nächsten Waggon, auch dort war kein Platz frei. Wir sollten doch bitte beim nächsten Halt aussteigen und in den hinteren Wagg…. Stopp! Es reichte uns, das durfte doch nicht wahr sein, es war drei Uhr früh, wir hatten nicht geschlafen, hatten gültige Tickets und keinen Platz!!! Der Schaffner sah sich nach meinem – zuggebenermaßen etwas hysterischen – Ausbruch (eine kreischende Europäerin schien ihn dann doch etwas irritierend) unsere Tickets genauer an und erkannte sofort das wahre Problem: Wir saßen im falschen Zug. Der fuhr zwar nach Mumbai, wir hatten aber die Tickets für den nächsten Zug – der nicht eine sondern drei Stunden Verspätung hatte. Zum Glück erwies sich der Indian-Railways-employee als völlig unkomliziert und flexibel, wir durften trotz ungültiger Tickets im Zug bleiben und bekamen einen Platz – am Boden neben den Toiletten – zugewiesen.

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Matheran Hill Station 1993

Unvergesslich ist für uns auch die Fahrt mit der Matheran Hill Railway, einer Schmalspurbahn, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Privatbahn von einem indischen Millionär gebaut worden war. 20 Kilometer lang ist die Strecke und überwindet einen Höhenunterschied von über 700 Metern.  Entsprechend kurvig schlängeln sich die Schienen in Serpentinen den Tafelberg hinauf. Als einzige europäische Passagiere waren wir an dem Tag die Hauptattraktion der Bahnkunden. Ins Gespräch kamen wir schließlich, als meine Eltern – die uns für zwei Wochen in Indien besucht hatten – bunte gefärbte Ostereier, eigenhändig importiert aus Österreich, auspackten. Rote, grüne und blaue Eier waren die Sensation für die Bahngäste, die den bei Mumbais Bewohnern beliebten Luftkurort Matheran besuchen wollten. Auf halben Weg stoppten wir mitten im Nirgendwo. Engine breakdown – but no problem, it‘ standard. Eine halbe Stunde später ging es schon weiter, ein Mann saß während der restlichen Fahrt auf der Lok und füllte permanent Wasser nach, um die Maschine vor weiterer Überhitzung zu bewahren. Bei der Downhillfahrt wurde es dann nochmals spannend. Weil die Bremsen durch das starke Gefälle zu versagen drohten, ging ein Mann während der Fahrt auf den Gleisen voraus und streute Sand. Eine simple und effiziente Methode.

Übrigens fährt die Bahn immer noch und soll ins UNESCO Weltkulturerbe aufgenommen werden. Diesen Plan unterstützen wir!

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Dabbawalla-Rad in Bombay 1993

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