Pilgrims at sea. Über Tausend Meilen hatten wir mit Maha Nanda zurückgelegt, als wir beschlossen, Santiago de Compostela zu besuchen. Praktischerweise liegt die Pilgerstadt nur 50 Kilometer von Muros an der galizischen Küste entfernt, unpraktischerweise hat sie keinen Hafen, was bedeutet, wir mussten per Bus anreisen, denn wir haben’s nicht so mit dem Wandern, daher war das Hinlatschen mit Rucksack und Wanderschuhen keine Option.

Santiago ist ein eindrucksvoller Ort – auch für Zweifler wie uns. Auf dem großen Praza do Obradoiro vor der Kathedrale saßen wir eine geschlagene Stunde ganz am Rande, am Boden, angelehnt an eine der Säulen des Arkadengangs gegenüber der Kirche, und beobachteten das Geschehen. Da kam definitiv die Kulturanthropologin in mir durch. Die wissenschaftliche Methode: teilnehmende Beobachtung. Eine ebenso alte wie beliebte ethnologische Methodik, durch die ich die Erkenntnis gewann: Für beinahe jeden Pilger ist die Ankunft auf diesem Platz ein persönliches Erfolgserlebnis, eine Heldentat. Auch wenn jährlich 299.000 andere die gleiche Heldentat begehen, fühlt sich hier, in diesem Moment, jeder einzelne als Hero.

Die Menschen jubeln, liegen einander in den Armen, lassen sich wie Rockstars beim Stage Diving tragen, schwenken Fahnen, werfen sich auf den Boden, recken kreischend die Hände gen Himmel. Radfahrer heben ihre Räder wie die Heilige Monstranz Richtung Kirche. Sie alle haben ihr Ziel erreicht, die Kathedrale von Santiago de Compostela, Grabstätte des Apostel Jakobus, seit Tausenden Jahren einer der beliebtesten christlichen Pilgerorte, gleich nach Rom und Jerusalem.

Wie viele dieser Menschen kommen aus religiöser Überzeugung hierher? Wandern Hunderte oder Tausende Kilometer, um die Gebeine des Apostel Jakobus zu sehen und… ihm für seine Wunder zu danken oder für ein weiteres zu ihren Gunsten zu bitten? Als gebürtige Skeptikerin glaube ich nicht an den unerschütterlichen Glauben jedes einzelnen dieser 300.000, die jährlich nach Santiago pilgern. Die katholische Alltags-Realität in Westeuropa steht dieser öffentlich zur Schau gestellten Frömmigkeit diametral gegenüber und jene wenige Camino-Pilger, die ich persönlich kenne, wanderten weniger wegen der Huldigung des Apostels Jakobus als vielmehr zum Zwecke ihrer persönlichen inneren Läuterung nach Santiago de Compostela.

Ohnehin ist mir persönlich die katholische Geschichte der Jakob’schen Gebeine zu sehr mit wundersamen Zufällen gespickt, um mich zu überzeugen. Aber Glaube hat eben nichts mit Wahrhaftigkeit zu tun, sonst wäre er ja eine exakte Wissenschaft. Eine schöne Historie im Sinne der kulturanthropologischen Religionswissenschaften ist die des Apostel Jakobs und des katholischen Reliquienkultes allemal.
Jakobus der Ältere war einer der zwölf Aposteln Jesu und starb als Märthyer. Er wurde in Palästina enthauptet, sein Leichnam auf ein Schiff ohne Besatzung verfrachtet, welches in Galizien an Land gespült wurde. In Santiago begrub man ihn schließlich, allerdings geriet sein Grab in Vergessenheit, wurde aber – welch ein Wunder- zufällig im 9. Jahrhundert wiederentdeckt.
Wie es sich in die mittelalterliche katholischenTradition so vortrefflich fügt, erwies sich die Enthauptung des Apostels als Glücksfall für jene Ritter und martialischen Kleriker, die mit Schwertern in den blutigen Kampf gegen alle Heiden zogen, welchen das Wort Gottes mit aller notwendiger Gewalt einzutrichtern war. Mehrere Schlachten gegen die Mauren wurden durch zahlreiche Wunder des Heiligen Jakobus zu Gunsten der katholischen Kirche geschlagen, was dem Apostel den – nicht ganz dem christlichen Leitsatz „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ entsprechenden – Beinamen Maurentöter einbrachte.
Jahrhunderte später und ein paar Tausend Meilen weiter westlich, während der – auch nicht unbedingt friedlichen – Christianisierung der amerikanischen Heiden, tötete man ebenfalls gerne im Namen von Jakobus und setzte mit Stadtgründungen wie Santiago de Chile oder San Diego ein sichtbares Zeichen für den Maurentöter.

Zurück nach Europa: Vom 11. Bis 14. Jahrhundert war ein regelrechter Jakobsweg-Boom entstanden. Scharen von Pilgern reisten nach Santiago, nicht zuletzt beseelt durch das päpstliche Versprechen des Sündenablasses. Sogar der Sünde des Mordes wurde reingewaschen, wer sich zu Fuß nach Spanien bemühte….

Mit der Reformation – Martin Luther lehnte Reliquien- und Heiligenkulte ab – und den Religionskriegen brach die Zahl der Pilger stark ein, die Inquisition, die Ausländer unter Generalverdacht des Ketzertums stellte, tat ihr Übriges dazu. Im 16. Jahrhundert schließlich wurden die Gebeine des Heiligen aus Sorge, sie könnten von den protestantischen Engländern unter Sir Francis Drake vernichtet werden, so gut versteckt, dass sie 300 Jahre lang nicht gefunden wurden. Einer weiteren wundersamen Fügung ist es zu verdanken, dass sie im 19. Jahrhundert doch wieder auftauchten – zwar entdeckte man gleich drei Skelette, aber die Jakobus’schen Gebeine wurden wie auch immer eindeutig erkannt.
Heute ist das Pilgern nach Santiago weniger der Reliquenverehrung als der spirituellen Suche von Menschen geschuldet, die in der globalisierten Welt neue Erfahrungen für sich selbst finden wollen. Einer Suche nach neuen Werten und körperlichen Grenzerfahrungen. Egal wie skeptisch und rational: Die Praza do Obradoiro ist ein Ort außergewöhnlicher Emotionen. Sie zu sehen und zu spüren, macht diese Momente, diese Stunde im Schatten der Kathedrale auch für uns unvergesslich.
Natürlich wurden die Jakobua’schen Gebeine, wie auch immer, eindeutig erkannt, du Ungläubige!
Mein Mann raunzt heute noch die Pilgerradtour nie angetreten zu haben. Und du kennst mich. Ich habe ihn nicht aufgehalten!!! Ich wollte, dass er sich wochenlang Urlaub dorthin gönnt!!!
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Und was war dann mit dem wochenlangen Urlaub? Oder kam ihm deine Begeisterung für seine Idee spanisch vor? 😂Vielleicht befürchtete er, dein Hausfreund würde während seiner Abwesenheit bei euch einziehen 🤣
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Er hatte Angst, dass ich nach wochenlanger Partnerabstinenz erholter sein könnte, als er selbst! 😉
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