Wir sind völlig überfordert. Und das, obwohl wir weder zu viel Wind noch zu viel Strom oder zu viel Tidenhub haben. Wir sind mit dem Wetter überfordert. Plötzlich haben wir Sommer. Und ich meine richtigen Sommer mit annähernd 30 Grad im Schatten und Sonnenschein! In Belgien geschah das Wunder der Jahreszeiten, wir kamen aus dem Spätherbst in die erste Hitzewelle des Jahres und wissen jetzt gar nicht, was wir alles ausziehen sollen.

Gestern jubelten wir an der holländisch-belgischen Grenze bei Knokke-Heist, denn wir ihr am Foto erkennen könnt, trugen wir keine Mützen mehr!

Hier in Blankenberge tragen wir (fast) gar nichts mehr. Belgien muss man lieben, nicht nur wegen des Wetters, auch wegen des herzlichen Empfangs. Unsere Stegnachbarn versuchten gleich nach dem Anlegen für uns des belgisch-niederländisch nicht Mächtigen den Hafenmeister zu erreichen – vergeblich, also erhielten wir kurzerhand ihren Code für Duschen und WC; auf der anderen Seite legte inzwischen ein fröhliches Duo an, das uns gleich mal zur Begrüßung auf eine Runde Jenever einlud. Was soll ich sagen, es wurde ein langer, feucht-fröhlicher Abend.

Bart ist Skipper-Instruktor und pensionierter Militär-Offizier und kommt dabei völlig ohne Befehlston, dafür aber mit Witz und überaus unterhaltsamen Anekdoten aus. Chris, sein „Schüler“, ein charmanter und unbekümmerter junger Mann – weitgereister Surfer und angehender Hochseefischer – erwies sich zudem als hervorragender Spaghetti-Koch. Wie könnte ein Samstagabend in einem belgischen Hafen besser verlaufen?

Wie unser Freund Hartmut so gerne sagt: Du gehst am Abend nie so dumm schlafen, wie du am Morgen aufgestanden bist. Was wir gestern lernten: Belgien hat sieben Gerichtshöfe und entsprechend viele verschiedene Gesetze im eigenen Staat, belgische Schokolade ist mit nichts zu vergleichen, das belgische Bier ist das beste der Welt und es gibt unzählige Sorten, von denen wir möglichst viele kosten müssen, außerdem erfanden die Belgier den Radler und die Pommes. Weil die Amerikaner die „Frites“ wie sie ursprünglich genannt wurden, im wallonischen – also französischsprechenden – Teil Belgiens zum ersten Mal genossen hatten, nannten sie diese „French Fries“ – und damit traten die geschnittenen, frittierten Erdäpfel ihren weltberühmten Kulinarik-Siegeszug an.
Taktische Schach-Segelzüge
Tipps haben wir von den beiden Lokalmatadoren auch zu unserer Weiterfahrt erhalten, denn angesichts des nun jede Meile, die wir südlich fahren, steigenden Tidenhubs können wir nicht mehr so ohne Weiteres leichtfertig in jeden Hafen zu jeder Tages- und Nachtzeit einlaufen. Hier in Blankenberge ist die Hafeneinfahrt ziemlich versandet, bei Niedrigwasser empfiehlt es sich daher, eine Stunde zu warten, um nicht Gefahr zu laufen, vor dem Hafen steckenzubleiben und auf bessere Zeiten – sprich Flut – zu warten. Diese Peinlichkeit wollen wir uns ersparen, also heißt es, die Abfahrt entsprechend Tide, Strom und natürlich Wind zu planen. Taktik ist das halbe Tidengewässer-Seglerleben. Viel haben wir von Bart und Chris gehört, uns angesichts der fortgeschrittenen Stunde und des steigenden Alkoholpegels leider nicht alles gemerkt. Das mit den Felsen vor Dunkirk – unserem nächsten geplanten Stopp – hab‘ ich nicht so ganz verstanden, der Captain versichert mir jedoch gerade, alles im Griff zu haben. Wenn ich mir seinen gestrigen spätnächtlichen Zustand in Erinnerung rufe, bin ich nicht hundertprozentig überzeugt. Aber ich werde ihm jetzt einfach – was bleibt mir anderes übrig – mein Vertrauen schenken.


Ohnehin klaffen Theorie und Praxis beim Segeln wie in vielen anderen Dingen des Lebens weit auseinander. Als wir unsere Abfahrt von Vlissingen nach Blankenberge planten, wussten wir über Tide, Strömung, Windrichtung und -stärke genau Bescheid. Theoretisch. Allerdings erwiesen sich die Wetterdienste wieder mal als… Schmarren, der angekündigte Südwest blies lieber von Nordwest, wenn auch Strom und Tide verlässlich taten, was sie zu tun hatten: Sie wandten sich gegen uns, was dazu führte, dass wir zwei Stunden immerhin drei Knoten Fahrt machten, dabei blöderweise auf der Stelle standen und den Leuchtturm an der Grenze zu Belgien im Detail studieren konnten. Zeit hatten wir ja….

Um 15 Uhr kenterte der Strom, der Wind nahm schlagartig zu und wir sausten mit sechs Knoten auf Zeebrügge und gleich danach Blankenberge zu. Funkspruch an Port Control Blankenberge: „Can we pass the port?“ „No Problem, but stay on east side.“ Here we are. Summertime, and the livin‘ is easy.

Was doch die Kamera-Perspektive ausmacht: lt. dem ersten Bild lebst Du im wahrsten Sinne des Wortes „auf grossem Fuße“. 😉
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